Zu Hans Alberts ersten Heidelberger Jahren
Nachbarschaftliche Beziehungen sind für die meisten Deutschen bekanntlich ein Kapitel für sich. Für die Schweizer ebenso. „Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ Friedrich Schiller wusste, wovon er sprach, als er den Doppelvers schrieb (Wilhelm Tell, 4. Akt). Mir ist, als würde Bruno Gans diese Worte erneut von der Bühne des Wiener Hoftheaters rezitieren.
Eigentlich gehörten derartige Erlebnisse sowie ganz allgemein Fragen der Ästhetik – soweit ich zurückblicken kann – kaum zum Stoff des Gesprächs mit Hans Albert. Die Spur führt, in der Erinnerung, eher auf Paul Feyerabend (1924-1994), dessen Bekanntschaft ich dank der freundlichen Vermittlung von Hans und Gretl in deren Wohnung machen konnte. Wir fanden sehr schnell ein gemeinsames Interessengebiet – fern von der Thematik der Wissenschaftslogik – am europäischen Theatergeschehen. Der Hinweis auf Mailand brachte Feyerabend dazu, mich nach meinen Erfahrungen mit dem Piccolo Teatro von Giorgio Strehler auszufragen. Hans und Gretl hielten sich – wie ich es im Laufe der Zeit bei unzähligen anderen Anlässen erleben sollte – als diskrete und tolerante Gastgeber im Hintergrund.
Die Heidelberger Turnerstraße behält auch heute, trotz des wachsenden Aufkommens ruhenden Verkehrs, den Charakter eines grünen Gürtels. Hier wohnte die Familie Albert in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts: von 1963 (dem Jahr der Berufung von Hans auf den Mannheimer Lehrstuhl) bis zu deren Umzug in das Eigenheim an der Freiburger Straße, in der Südstadt, 1971. Gerade war im Haus Turnerstraße 12, damals einem Neubau, die Parterre-Wohnung frei geworden. Als Nachbar bestaunte ich beim Einzug der Familie Albert die zahlreichen Kisten mit den Büchern der Albert’schen Bibliothek, ergänzt durch die vielen Ordner der Albert’schen Korrespondenz. Diese sollte mit der Zeit noch wachsen, und Teile davon sind inzwischen veröffentlicht worden (ich verweise beispielhaft auf den Briefwechsel mit Sir Karl Popper und Paul Feyerabend): wichtige Bausteine für eine Geschichte des Kritischen Rationalismus in Deutschland und in Europa.
An der ersten Begegnung mit dem gerade hinzugezogenen Ehepaar Albert im Hause Turnerstraße 12 kann ich mich nicht erinnern. Wohl aber an die ungezwungene, spontane Art und Weise, mit der aus der Bekanntschaft zuerst ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis und dann eine recht schöne Freundschaft der beiden Familien entstehen sollte.
Bald wurde das Wohn-und-Studierzimmer in der Parterre-Wohnung Mittelpunkt sowohl des Familiengeschehens als auch der wissenschaftlichen und publizistischen Arbeit Hans Alberts. Als ich in den Sommermonaten in der Frühe das Haus in Richtung Universität verließ, konnte ich durch das offene Fenster hören, wie er an der Schreibmaschine arbeitete.
Es ist seither mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen. Indem ich heute diese Notizen niederschreibe, bin ich mir der Tatsache bewusst, dass ich mich im gleichen Zimmer befinde, in dem das Traktat über Kritische Vernunft (1968) verfasst wurde. (1971 hatten meine Frau Katharina und ich nämlich die Wohnung von Albert übernommen.)
In meiner Erinnerung bildete dieser Raum die Kulisse zahlreicher Begegnungen und Gespräche, bei denen ich zugegen sein durfte. Darunter der erste Besuch im Hause Albert von Jürgen Habermas. Dieser Ort war stets Mittelpunkt reger kultureller Begegnungen, der Geselligkeit und des Diskurses. Diese Aspekte in Hans Alberts Leben sind in neuerer Zeit von mehreren Autoren durchleuchtet worden, und ich brauche nicht darauf einzugehen. Ich möchte nur auf ein Interview hinweisen, das 1968, also in der
Zeit der sog. „Studentenrevolte“, das italienische Staatsfernsehen durch meine Vermittlung in eben diesem Zimmer mit Hans Albert führte.
Den zahlreichen Besuchern in der Turner- wie später in der Freiburgerstraße blieb die Erfahrung der berühmten Albert’schen Gästebücher nicht erspart. Kein Einziger, der sich auch nur zu einem Gruß über die Schwelle der Wohnung von Gretl und Hans traute, durfte diese ohne einen eigenhändigen Eintrag im Gästebuch verlassen! Künftigen Forschern und Archivaren bleibt festzustellen vorbehalten, wann und wie oft jeder zu Gast bei ihnen war.
Aus der Heidelberger Turnerstraße möchten wir heute, aus Anlass des bevorstehenden 50-jährigen Jubiläums der Publikation von seinem Traktat über Kritische Vernunft, Hans Albert in tief empfundener Dankbarkeit und Verbundenheit recht herzlich grüßen!
Ettore und Katharina Brissa, Mai 2017
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